29. KAPITEL

Carl war zurückgekehrt, nachdem er eine falsche Fährte gelegt hatte, die seine Verfolger hoffentlich nach Süden lockte. Von seiner Position hinter einem Baum ein paar Meter entfernt hatte er alles gehört, was Sam Cutler zu Vanessa sagte, und auch gesehen, dass er den Befehl gab, ihr eine Spritze zu verabreichen.

Carl war sicher, dass er Cutler bereits zweimal gesehen hatte. Nur hatte sich Wingates Mann während Carls erster Mission und bei der Rettungsaktion für die vermissten Soldaten Paul Molineaux genannt. Er überlegte kurz, ob er Molineaux und den anderen Mann, der Vanessa festhielt, umbringen sollte, verzichtete aber lieber darauf. Cutler hatte recht, was ihn betraf: Er war aus der Übung. Mit zwanzig hätte er beide Männer ohne Probleme mit einer Pistole selbst aus dieser Entfernung auslöschen können, aber Vanessa könnte sterben, wenn er seine Schüsse nicht schnell genug abfeuerte oder sein Ziel verfehlte. Ihm bot sich eine bessere Möglichkeit, als Vanessas Wächter sie zum Wagen brachten, doch auch diesen Plan musste er aufgeben, als zwei weitere Männer neben Cutler auftauchten.

»Wir haben ihn verloren«, sagte der eine.

»Okay«, antwortete Sam. »Er hatte genug Zeit, zu verschwinden. In der Nacht kriegen wir ihn nie. Bringen wir die Tochter des Generals nach Hause!«

Carl sah ihnen nach. Er hatte gehört, was Cutler über diesen Sender gesagt hatte. Als er sicher war, dass Cutler und seine Leute verschwunden waren, setzte er ihn außer Gefecht, und während er fuhr, schmiedete er einen Plan, wie er Vanessa retten konnte. Er ließ ihren Wagen auf dem Parkplatz eines Supermarkts stehen, stahl einen unauffälligen Chevrolet und fuhr nach Süden. Er benutzte nur Nebenstraßen und brauchte für die Strecke an der Küste entlang fast einen ganzen Tag. Unterwegs hörte er im Radio die Nachrichten. Wingate hielt eine Rede in Cleveland. Wenn der General danach direkt nach Hause flog, würden er und Carl etwa um dieselbe Zeit dort ankommen.

Nach Einbruch der Dunkelheit brach Carl in einem Sportgeschäft in einer kleinen Stadt in der Nähe von San Diego ein. Er stahl ein paar Bergstiefel mit steifer Sohle, ein Fernglas, einen Tauchanzug, eine Harpune samt Pfeilen, einige Meter festes Seil und die stärkste Angelschnur, die er finden konnte. Seine Beute stopfte er in eine von Vanessas Segeltuchtaschen und fuhr zu einem Strand einige Meilen südlich vom Landsitz des Generals. Dort hatte er herumgehangen, als er noch Student in St. Martins gewesen war.

Auf dem kleinen Parkplatz standen keine anderen Wagen, als Carl gegen Mitternacht dort anhielt und den Tauchanzug überstreifte. Der Strand war ebenfalls verlassen. Er schnallte sich die Segeltuchtasche auf den Rücken und schwamm an der Küste entlang. Es war anstrengend, sich durch die Brandung zu kämpfen, aber der Gedanke an Vanessa trieb ihn weiter. Außerdem wusste Carl, dass es noch weit schwieriger sein würde, in das Haus zu gelangen und Vanessa zu retten. Ganz gleich, wie oft Carl seinen Plan durchging, er klang in jeder Version wie ein Himmelfahrtskommando.

Altwerden ist Mist, dachte Carl, als er aus der Brandung auf den Strand hinter dem steinernen Steg am Rand von Morris Wingates Grundstück trat. Er zerrte die Segeltuchtasche hinter sich her, ließ sich auf den Sand fallen und rang nach Luft. Ihm tat jeder Muskel seines Körpers weh. Fast sein ganzes Leben lang war Carl so gut in Form gewesen, dass er beinahe jede körperliche Anstrengung mit einem Minimum an Erschöpfung ertragen konnte, aber mittlerweile war er fast fünfzig und sein Körper war nicht mehr so widerstandsfähig wie früher, obwohl er immer noch hart trainierte. Außerdem hatte er sich noch nicht ganz von seinen Schussverletzungen erholt. Nur der Gedanke an Vanessa trieb ihn weiter. Er hatte sie einmal enttäuscht, als er zur Army gegangen war, und würde sie nicht noch einmal im Stich lassen.

Als er wieder fast normal atmete, spähte Carl über den Landungssteg und betrachtete die hundert Meter hohe Klippe, welche die Grenze von Wingates Besitz markierte. Als er den alten Baum sah, der immer noch über die Klippe hinüber ragte, atmete er erleichtert auf. Sein Plan hing von diesem Baum ab. Es würde reichen, wenn er nur halb so kräftig war, wie er aussah.

Carls Hauptproblem war der Zustand der Klippe. Die Natur nagte seit Jahrhunderten an der Felswand, die er erklettern musste. In den Spalten hatte sich Pflanzen eingenistet und lockerte den Stein. Der salzige Wind vom Meer fraß unbarmherzig an dem Fels. Dadurch bröckelte die Flanke unaufhörlich ab. Es war schon am Tage tückisch genug, Halt für Füße und Hände zu finden. In der Nacht konnte jeder Zentimeter dieses Aufstiegs eine unerfreuliche Überraschung bereithalten.

Carl wand sich aus seinem Tauchanzug und zog Jeans, T-Shirt und Wanderschuhe an, bevor er mit dem Fernglas die Spitze der Klippe absuchte. Als er sich überzeugt hatte, dass keine Wachen darauf patrouillierten, schlang er sich die Segeltuchtasche über die Schultern. Er wollte schon über den Strand sprinten, als er über sich das Geräusch von Rotorblättern hörte. Er presste sich gegen den Steg und suchte den Himmel ab, bis er einen Lichtpunkt sah, der aus nördlicher Richtung zu Wingates Anwesen flog. Einige Augenblicke später flammten die Landelichter an Wingates Helikopterlandeplatz auf, und ein Computex-Hubschrauber schien aus den Wolken zu fallen. Der General war eingetroffen.

Carl rechnete damit, dass die Ankunft des Hubschraubers die Wachen ablenken würde, also rannte er über den Strand zum Fuß der Klippen, blieb im Schatten stehen und lauschte. Hatte man ihn entdeckt? Als er überzeugt war, dass niemand ihn gesehen hatte, begann er den Aufstieg unmittelbar unter dem Baum.

Obwohl seine Arme und Beine noch von dem anstrengenden Schwimmen schmerzten, seine Wunden höllisch brannten und der Wind ihn gnadenlos herum schleuderte, brachte Carl die ersten dreißig Meter problemlos hinter sich. Dann bröckelten hintereinander zwei Handhalte und ein Fußhalt, und er rutschte ein Stück die Klippe hinab. Carl stoppte seinen Sturz auf einem schmalen Vorsprung und holte seine Ausrüstung heraus. Nachdem er ein langes Stück Angelschnur an einem Pfeil befestigt hatte, legte er ihn auf die Sehne der Harpune. Vom Strand aus war der Baum hundert Meter steil nach oben entfernt. Von Carls Standort aus war er weniger als siebzig Meter weg. Das war zwar noch eine große Entfernung, aber er musste es versuchen.

Carl zielte über die Rückseite des Baumes hinaus. Sein erster Schuss ging fehl, und er musste den Pfeil zurückholen. Den zweiten Schuss trieb der Wind von der Klippe fort. Carl wartete geduldig, bis der Wind kurz abflaute, bevor er es zum dritten Mal versuchte. Er seufzte und drückte ab. Diesmal beschrieb der Pfeil einen Bogen durch die Luft, flog über die Nordseite des Baumes und über den Stamm hinweg. Das Gewicht des Pfeils zog die Angelschnur über den Stamm des Baumes an der Südseite hinunter, an Carl vorbei. Er fiel fast bis auf den Strand.

Carl kletterte die Klippe hinab, während er Leine nachließ. Als er den Pfeil erreichte, nahm er ein Stück Seil aus der Segeltuchtasche und band sie mit einem Seemannsknoten an die Angelschnur direkt über dem Pfeil. Dann ließ er den Pfeil los, ging zur Nordseite des Baumes und wickelte die Angelschnur auf, bis das Seil an beiden Seiten über dem Baumstamm hinunter hing.

Nachdem er den Pfeil und die Angelschnur von dem Seil gelöst hatte, formte Carl eine Schlinge an dem einen Ende des Seils und schob das andere Ende hindurch. Damit machte er eine Schlaufe um den Baumstamm. Carl zog das Seil straff, bis es sich um den Stamm schlang und festen Halt hatte.

Dann formte er aus kürzeren Seilstücken eine Schlinge, die er um seine Brust legte, und eine Art Sitzgeschirr, das er an seiner Taille und an seinem Hintern sicherte, so dass es wie eine Windel saß. Schließlich holte er zwei weitere Stricke aus der Tasche, die etwa doppelt so lang waren wie sein Körper. Das erste Stück band er um das Tauende, das von dem Baum baumelte. Er machte einen speziellen Knoten und direkt darunter noch einen. Dieser Knoten war eine clevere Vorrichtung. Man konnte ihn an dem Seil hinauf oder hinunter schieben, wenn es keine Spannung hatte. Wurde das Tau jedoch gestrafft, spannte er sich und rutschte nicht. Carl führte den ersten Knoten unter seine Brustschlinge hindurch und befestigte ihn an seinem Sitzgeschirr. Sobald er sich in das Geschirr setzte, hielt die Spannung auf dem Knoten das Geschirr an dem Tau. Dann konnte Carl gefahrlos an dem Seil hängen. Wenn er einen Fuß in die Schlaufe des zweiten Knotens setzte, konnte er sich aufrechtstellen und die Spannung des zweiten Knotens verhinderte, dass er abrutschte, wenn er aufstand. Außerdem löste sich in dem Moment auch die Spannung des oberen Knotens, und er konnte ihn an dem Tau soweit hinaufschieben, wie seine Arme reichten. Damit hatte Carl ein einfaches System konstruiert, das ihm erlaubte, an dem Seil hinauf zu rutschen, indem er einfach aufstand und sich setzte. Er konnte mit einem minimalen Aufwand an Kraft zu dem Baum hinaufklettern, weil er im Sitzen und Stehen kurz ausruhen konnte.

Als Carl den Baum erreichte, verharrte er unter dem Rand der Klippe, ließ sich in sein Sitzgeschirr sinken und schöpfte Atem. Als er sich kräftig genug fühlte, spähte er über den Rand. Von den Wachen war nichts zu sehen. Carl zog sich über die Kante und ließ das Seil an dem Baum hängen. So konnten Vanessa und er sich schnell hinunter hangeln, falls sie fliehen mussten. Er beschmierte es allerdings vorher mit Erde, damit die Wachposten es nicht sahen.

Carl hatte den Männern, die er in Amis Haus getötet hatte, zwei Neun-Millimeter-Glock-Automatic mit Schalldämpfern, Munition und ein Kampfmesser abgenommen. Das Messer steckte bereits in der Scheide, die er sich vor dem Aufstieg umgeschnallt hatte. Nun nahm er die Pistolen aus der Tasche, die er anschließend im Unterholz ein paar Schritte von dem Baum entfernt versteckte.

Carl dachte darüber nach, was ihn erwartete. Er musste an den Wächtern und an Wingates Überwachungsanlage vorbeikommen, in das Haus einbrechen und Vanessa finden, ohne sich erwischen oder töten zu lassen. Dann musste er mit ihr entkommen, was bedeutete, Vanessa hatte keine andere Wahl, als zum Strand hinunter zu hangeln und in der aufgewühlten See die Küste entlang zu schwimmen. Wie sollte ihnen das gelingen? Es war beinahe unmöglich!

Als Vanessa diesmal das Bewusstsein wiedererlangte, stand ein Mann an der Tür und beobachtete sie. Ein anderer saß neben ihrem Bett. Im Zimmer war es dunkel, und sie schloss die Augen.

Eine warme Hand legte sich über ihre. Sie zwang sich, die Augen wieder aufzuschlagen. Das Licht ging an, und sie blinzelte.

»Gott sei Dank, du bist in Sicherheit.«

Vanessa brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass Ihr Vater gesprochen hatte, und sie benötigte einen weiteren Herzschlag, bis sie sich erinnerte, dass sie ihn hasste. Wut pumpte Adrenalin durch ihren Körper, das die Wirkung der Betäubungsdrogen vertrieb. Sie versuchte, sich aufzusetzen.

Der General berührte ihre Schulter. »Nein, ruh dich aus. Du brauchst deine Kraft.« »Nimm deine Hände von mir.«

»Vanessa, ich liebe dich. Was ich getan habe, musste ich tun, um dich zu beschützen.«

»Vor wem? Du bist der einzige Mensch, vor dem ich Angst habe.«

»Du weißt nicht, was du da sagst. Alles habe ich getan, um dir zu helfen.«

»Hast du mich deshalb zum Beispiel ein Jahr in ein Irrenhaus gesperrt und mich unter Drogen setzen lassen, damit ich niemandem sagen konnte, dass du Carl befohlen hast, Eric Glass zu ermorden?«

Sie deutete auf Sam Cutler, der ihnen von der Tür aus zusah. »Und deshalb hast du mich auch von deinem kleinen Spion kidnappen lassen? Sag mir eins: Hat Sam dir, während er bei mir lebte, auch detailliert beschrieben, wie wir gevögelt haben?«

Vanessas sprach undeutlich, und ihre Stimme klang tonlos. Trotzdem zuckte der General zusammen.

»Carl Rice ist ein verrückter Killer«, erwiderte Wingate.

»Ich habe keine Ahnung, wie viele Menschen er ermordet hat. Ich musste dich von ihm wegholen.«

»Du musst ihn ermorden, weil er der einzige noch lebende Zeuge ist, der die Wahrheit über dein schmutziges Geheimnis verraten kann, das verhindern könnte, dass du Präsident wirst.«

Wingate seufzte. »Das sind Wahnvorstellungen, Vanessa. Das macht ihn so überzeugend. Er glaubt wirklich alles, was er dir erzählt hat. Aber nichts davon stimmt. Es gab keine geheime Einheit. Ich habe nicht dafür gesorgt, dass Carl eingezogen wurde, und ich habe ihm niemals befohlen, Eric Glass zu töten. Das alles spielt sich nur in Carls Kopf ab, und du glaubst ihm, weil du mich hasst. Hast du eine Ahnung, wie schlecht ich mich fühle, weil meine Tochter mich für so böse hält, dass ich meine eigene Ehefrau ermorden würde, die ich sehr geliebt habe?« Der General senkte den Kopf, seine Stimme klang belegt. »Ich habe es dir niemals gesagt, aber es gab Nächte, in denen ich mich deinetwegen in den Schlaf geweint habe. Weil ich wusste, dass du eine so schlechte Meinung von mir hast...«

Wingate schüttelte den Kopf. Auf Vanessa wirkte es, als würden seine Gefühle ihn überwältigen, und das schockierte sie. Sie hatte nie erlebt, dass ihr Vater die Beherrschung verlor, nicht einmal auf der Beerdigung seiner Frau. Nicht zuletzt diese Beherrschung hatte sie überzeugt, dass Morris Wingate seine Frau gar nicht geliebt hatte. Spielte der General nun seine Gefühle, oder waren sie echt? Alles, was sie über ihren Vater zu wissen glaubte, sagte ihr, dass er sie nur vortäuschte.

»Bist du hungrig?« fragte Wingate. »Ich habe ein Abendessen vorbereiten lassen.« Er lächelte plötzlich. »Ich habe einen neuen Küchenchef, ein Franzose. Ich habe ihn aus einem Vier-Sterne-Restaurant in Los Angeles entführt.«

»Sieht aus, als wäre Entführung dein neues Hobby.«

»Du hast auch einige sehr interessante Hobbys«, antwortete Wingate müde. »Du hast mich in eine schreckliche Situation gebracht, Vanessa. Du bist eine gesuchte Kriminelle. Du hast Carl Rice, einem mehrfachen Mörder, zur Flucht aus dem Gefängnis verholfen. Ich bin dein Vater, ich liebe dich und möchte dich beschützen, aber ich bewerbe mich auch um die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten meiner Partei. Ganz zu schweigen von dem Ärger, den ich mir einhandeln könnte, weil ich eine Flüchtige verstecke. Was sollte ich tun?«

»Deine politischen Ziele interessieren mich nicht«, erwiderte Vanessa.

»Ich weiß, dass du mir nicht glaubst, aber Rice ist ein sehr gefährlicher Mann. Ich musste dich vor ihm schützen.«

»Also wirst du mich wieder in eine Klinik einweisen?«

»Niemand weiß, dass du hier bist, und dabei will ich es belassen. Ich habe aus meiner Zeit beim Militär und bei Computex weltweit genug Kontakte. Es wäre einfach für mich, dir eine neue Identität zu verschaffen. Du könntest in einem anderen Land von vorn anfangen. Du wärst in Sicherheit, und ich würde dafür sorgen, dass du immer genug Geld hast.«

»Darum geht es also! Du willst mich irgendwohin schicken, damit ich kein Aufsehen erregen kann.«

»Ich will verhindern, dass du ins Gefängnis kommst, weil deine Wahnvorstellungen dich dazu verleitet haben, einem Mörder zu helfen.«

»Was hast du mit Carl vor?«

»Um Carl kümmert sich die Polizei. Vielleicht erwischen sie ihn ja nie. Er ist sehr erfindungsreich. Immerhin ist es ihm jahrelang gelungen, sich vor der Ergreifung zu schützen. Möglicherweise bleibt ihm das Glück ja treu. Hat er dir gesagt, wohin er geht und welche Pläne er hat?«

»Wir wussten nicht, wohin wir gehen sollten. Wir wollten uns in der Blockhütte verstecken, wo Sam uns aufgestöbert hat, und am Morgen unsere weiteren Schritte planen, nachdem wir uns ausgeruht hatten.«

»Also weißt du nicht, wo er sein könnte?«

»Nein.«

Wingate sah Cutler an, der sich daraufhin aufrichtete und eine Spritze aus der Tasche zog.

»Was ist das?« erkundigte sich Vanessa.

Wingate reagierte rasch und drückte Vanessa auf das Bett.

»Etwas, das dir hilft, zu ruhen«, sagte er. »Es tut nicht weh.«

»Ich will keine Drogen mehr!« schrie Vanessa, während sie versuchte, sich zu befreien.

Wingate und Cutler ignorierten ihr Schreien und packten sie. »Halten Sie sie gut fest, General«, sagte Cutler, als er sich vorbeugte, um ihr die Injektion zu verpassen. »Ich will die Vene nicht verfehlen.« Es waren etwas mehr als zwei Meilen durch den Wald von dem Steinsteg über den Strand zum Besitz des Generals. Charlotte Kohler war gern über diese Wege spaziert, die sie sich von einem Landschaftsarchitekten in ihrem privaten Wald hatte anlegen lassen. Carl mied sie, weil sie sich für Bewegungsmelder anboten. Nach einer Weile sah er die Lichter des Hauses zwischen den Bäumen schimmern. Vorsichtig schlich er weiter, bis sich nur noch wenige Bäume zwischen ihm und dem Rasen auf der Rückseite des Anwesens befanden. Das Gelände unmittelbar hinter dem Haus bot nur wenige Möglichkeiten, sich zu verstecken. Während Carl das Haus beobachtete, überquerten zwei Wachen den Rasen.

Er verfolgte die Route der Wachen sehr genau. Einer der Männer ging am Rand des Pools in der Nähe der Cabana entlang, wo Carl sich bei seinem ersten Besuch in diesem Haus die Badehose angezogen hatte. Als der Posten verschwand, traf Carl eine Entscheidung.

Die Posten brauchten zwölf Minuten, um ihren Rundgang zu beenden. Carl arbeitete sich durch den Wald so dicht an die Umkleidekabinen heran, wie er konnte. Alles hing davon ab, dass er unentdeckt blieb. Er lief vom Wald zum Pool und duckte sich hinter die Cabana.

Dann sah er auf die Uhr. Noch drei Minuten. Er stellte sich den Angriff vor und ging mögliche Szenarien durch. Als er noch eine Minute Zeit hatte, zog Carl das Messer aus der Scheide. Er hatte bei solchen Gelegenheiten häufiger ein bestimmtes Phänomen erlebt. Seitdem war er überzeugt, dass Menschen eine Art magnetisches Feld um sich hatten, das sie warnte, wenn andere Menschen in unmittelbarer Nähe waren. Er wusste zwar nicht, ob wissenschaftliche Studien seine Wahrnehmung stützten, aber er hatte erlebt, dass ein mögliches Opfer, ganz gleich wie verstohlen man sich ihm näherte, merkte, wenn ein Angreifer dieses magnetische Feld betrat. Wenn er auch nur einen Moment zögerte, konnte das einen schnellen Angriff in einen Kampf auf Leben und Tod verwandeln.

Die Wachen überquerten den Rasen, und Carls Ziel tauchte an dem Pool auf, als der andere Wächter gerade um die Ecke des Hauses bog. Carl handelte, als der Mann ihm den Rücken zukehrte. Der Wachposten wirbelte zwar herum, als Carl angriff, hatte jedoch keine Chance. Er starb, ohne auch nur das geringste Geräusch von sich geben zu können. Carl zerrte die Leiche des Wächters in die Cabana und zog seine Kleidung an. Nun hatte er außer den Glocks und dem Messer noch die automatische Waffe des Postens und zwei Extramagazine mit Munition.

Um Zeit gutzumachen, ging Carl etwas schneller, als sein Opfer gegangen war, aber er kam trotzdem zu spät. Er sah den anderen Wachposten, als sie beide auf der Nordseite des Hauses waren, in der Nähe der Kellertür. Das war jedoch ein ganz glücklicher Umstand, denn hier befanden sich kaum Fenster. Carl kniete sich hin und tat, als würde er sich die Schuhbänder zuschnüren. Er senkte den Kopf und verbarg sein Gesicht.

»Was gibt's, Rick?« erkundigte sich der andere Wachposten, als er näher kam.

Carl erschoss ihn mit der schallgedämpften Glock und lehnte die Leiche gegen die Hauswand. Er drückte die Klinke der Kellertür hinunter. Sie war verschlossen. Hastig durchwühlte er die Taschen des Wachpostens und fand einen Schlüsselring. Der dritte Schlüssel passte.

Einmal in ihrer Schulzeit hatten Carl und Vanessa sich in der kühlen Dunkelheit des Kellers auf einem alten Perserteppich geliebt, während Vanessas Vater sich mit seinen wichtigen Freunden über ihnen getroffen hatte. Im Keller war es zwar immer noch kühl und dunkel, aber die erotischen Erinnerungen waren ausgelöscht, als Carl zwischen den gelagerten Möbeln und ausgemusterten Kunstwerken die Treppe zum Erdgeschoß hinaufstieg. Die Kellertür führte in einen kurzen Flur neben der Küche. Er öffnete sie einen Spalt, so dass er den Flur überblicken konnte.

Ein Wachposten ging am Flureingang vorbei, und Carl duckte sich hinter die Tür. Nachdem der Posten sich entfernt hatte, schlich Carl über den Flur in seine Richtung. Als er das Ende des Flurs erreicht hatte, bückte er sich und spähte um die Ecke. Der Wachposten stand mit dem Rücken zu ihm und schien eine Pause einzulegen. Carl setzte den Mann mit einem Schlag auf den Schädel außer Gefecht. Anschließend schleifte er ihn in den Keller, fesselte ihn mit Plastikhandschellen, die er in der Gesäßtasche des Wachpostens gefunden hatte, und lehnte ihn aufrecht an staubige Kartons. Dann schlug er ihm mehrmals in Gesicht, bis er aufwachte.

Der Mann schlug flackernd die Augen auf. Er versuchte, seinen Blick auf Carls Gesicht zu richten, aber der metallische Geschmack in seinem Mund lenkte seinen Blick auf die Pistolenmündung, die zwischen seinen Lippen steckte.

»Du hast eine einzige Chance«, sagte Carl leise und gebieterisch. »Wenn ich die Mündung aus deinem Mund nehme, sagst du mir, wo der General seine Gefangene versteckt. Sonst erschieße ich dich und suche mir jemanden, der redseliger ist. Klar?«

Der Posten nickte. Carl zog die Mündung von den Lippen des Mannes zurück.

»Erster Stock. Dienstmädchenzimmer.«

Carl schlug dem Mann schnell und härter als beim ersten Mal die Waffe an den Kopf. Der Wachposten sank zur Seite, während Carl bereits zur Treppe lief. Das Dienstmädchenzimmer kannte er. Vanessa und er hatten dort an einem Sommerabend miteinander geschlafen. Wenn er darüber nachdachte, hatte fast jede Erinnerung an Wingates Haus etwas mit Sex zu tun

Er benutzte die Hintertreppe in den ersten Stock. Lautlos schlich er über den Flur. Als er sich dem Zimmer näherte, hörte er Stimmen. Dann schrie Vanessa.

»Ich will keine Drogen mehr!«

Als Carl die Tür aufstieß, drückte der General Vanessa auf das Bett, und Sam Cutler hockte auf ihr mit einer Spritze in der Hand. Er sagte etwas zu dem General.

»Leg die Spritze weg!« sagte Carl mit schneidender Stimme.

Cutler erstarrte. Wingate drehte den Kopf zur Tür, ohne aber ein Wort zu sagen.

»Leg sie weg!« wiederholte Carl.

Cutler legte die Spritze vorsichtig auf den Nachttisch neben dem Bett.

»Weg von ihr, an die Wand. Sofort!«

Beide Männer gehorchten.

»Ich wusste, dass du kommen würdest«, sagte Vanessa.

Carl trat an die Seite des Bettes. Einen winzigen Moment lang glitt sein Blick von Wingate und Cutler zu Vanessa. Im gleichen Moment ließ Cutler einen japanischen Wurfstern aus seinem Ärmel in seine Hand fallen und schleuderte ihn wie einen Frisbee über das Bett. Der Wurfstern hatte sechs rasiermesserscharfe Spitzen und traf Carl in die rechte Schulter. Vor Schmerzen ließ er die Glock fallen. Cutler sprang über das Bett. Vanessa riss das Bein hoch und erwischte Cutler am Knie. Als er über sie stolperte, packte Vanessa die Spritze und rammte sie tief in Cutlers Schenkel.

»Du Miststück!« fauchte er. Im nächsten Moment verdrehte er die Augen. Vanessa wusste genau, was nun mit Cutler passierte. Sie hatte es immer wieder erlebt, seit Cutler ihr im Wald das erste Mal diese Spritze gegeben hatte.

Wingate machte einen Schritt auf Rice zu, änderte dann seine Richtung und stürmte aus dem Zimmer, während Carl die Glock mit der linken Hand packte und auf ihn zielte. Der Schuss fegte durch die offene Tür und grub sich in die Wand. Der Putz flog durch den Flur. Der General schrie aus Leibeskräften. Rice spähte in den Flur. Es war niemand sonst zu sehen, aber das würde sich bald ändern.

»Steh auf, Vanessa!«

Sie rappelte sich hoch. Sie wollte sich beeilen, aber ihre Beine fühlten sich wie aus Gummi an. Carl stützte sie. Er wusste, dass er sich unmöglich den Weg aus dem Haus kämpfen und dann die Klippe hinunter fliehen konnte, solange Vanessa in diesem Zustand war.

Carl hielt die Glock mit seiner linken Hand und packte Vanessas Ellbogen mit der rechten.

»Konzentriere dich, Vanessa! Wir müssen schnellstens hier raus.«

»Okay«, antwortete sie schläfrig.

Carl trat einen Schritt in den Flur hinaus, als auch schon auf ihn geschossen wurde. Die Kugel hätte ihm fast den Kopf abgerissen. Er duckte sich hastig in das Zimmer zurück, während Holzsplitter aus dem Türrahmen durch die Luft flogen. Carl schlug die Tür zu und klemmte einen Stuhl unter den Türknauf. Dann warf er Cutler auf den Boden und kippte das Bett um.

»Leg dich hinter das Bett auf den Boden! Sie werden gleich diese Tür und die Wand durchlöchern.«

Carl legte sich neben Vanessa hinter das Bett und breitete seine Waffen und seine Munition neben sich aus. Sie würden sich eine Weile verteidigen können, aber was würde dann geschehen?

»Was passiert jetzt?« Vanessa klang immer noch etwas entrückt

»Keine Ahnung. Wir sitzen hier fest. Es gibt nur einen Ausweg, die Tür, und die bewacht dein Vater. Selbst wenn wir durch die Tür kommen, müssen wir uns durch den Flur zur Treppe kämpfen. Danach müssen wir uns den Weg die Treppe hinunter und durch das Haus freischießen.«

Carl zuckte mit den Schultern. Vanessa versuchte, sich zu konzentrieren. Irgendwann hatte sie den Anflug einer Idee gehabt, aber sie war zu erledigt, um einen klaren Gedanken zu fassen. Dafür war ihr etwas anderes klargeworden. Sie hatte sich gefragt, warum ihr Vater sie zwar genug liebte, dass er alle ihre Pyjamas aufgehoben hatte, sie dafür aber im Dienstmädchenzimmer im unbewohnten Flügel des Hauses untergebracht hatte und nicht in ihrem alten Zimmer. Jetzt kannte sie die Antwort auf diese Frage. Der General hatte damit gerechnet, dass Carl sie holen wollte. Sie war nur ein Köder für ihn und dieses Zimmer war eine Falle gewesen.

»Carl, nehmen Sie Vernunft an!« rief der General. »Aus diesem Zimmer gibt es keinen Ausweg. Werfen Sie Ihre Waffen heraus! Dann wird Vanessa nicht verletzt und Sie auch nicht.«

»Das klingt wirklich sehr verlockend, Morris«, höhnte Carl. »Ich bin sicher, dass wir Ihnen vertrauen können. Vielleicht essen wir zusammen und plaudern über alte Zeiten. Zum Beispiel über die Mission zur Rettung der vermissten Soldaten, die Ihr mieser Handlanger angeführt hat? Sie haben danach wirklich ausgiebig nach mir und den anderen Jungs gesucht.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden, Carl. Sam hat nur einmal ein Team mit Ihnen geleitet, bei Ihrem ersten Auftrag. Daran sind Sie zerbrochen. Sie sind krank, Carl. Ich sage das auch vor Gericht aus. Vielleicht kommen Sie dann ja in eine Klinik und müssen nicht ins Gefängnis.«

»Genau!« sagte Vanessa, es ihr wieder einfiel.

»Was?« fragte Carl, aber Vanessa antwortete nicht. Stattdessen durchsuchte sie Sam Cutler. Kurz bevor sie auf dem Flughafen in den Computex-Hubschrauber gestiegen waren, hatte Cutler jemanden mit einem Handy angerufen. Anschließend hatte er es eingesteckt.

»Ja!« sagte sie triumphierend und zog es aus seiner Tasche

Die Schuld wird nie vergehen
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